Selbstachtung gegen Vorurteile

Versuch einer Gesprächsanalyse der 5. Szene des 2. Aktes von "Nathan der Weise"



Personen: Nathan und der Tempelritter

Zu Beginn der Szene nähert sich Nathan einem psychisch und emotional stark belasteten Mann. Innert kürzester Zeit erlebte dieser den Abstieg vom Retter der Christenheit zum Gefangenen und Todeskandidaten, wurde in letzter Sekunde als einziger begnadigt und ohne Regelung seines Status in eine Welt hinaus gestossen, mit der er bereits abgeschlossen hatte. Dieser junge Mann, dessen Selbstvertrauen und Wertvorstellungen durch die vorangegangenen Ereignisse schwer gelitten haben dürften, wird nun mit einem Angehörigen eines in der Christenheit schwer diskreditierten Volkes konfrontiert, der sich ihm in vollendeter Höflichkeit aufdrängt. Auf einen Menschen, der sich von vornherein schuldig bekennt, die Ruhe seines Gesprächspartners zu stören, kann ein gut erzogener Mann wie Curd kaum mit konsequenter Ablehnung reagieren. Zudem wird ihm das Gefühl vermittelt, der Stärkere zu sein, was ihn an seine ritterlich - ideologische Pflicht erinnert, sich den Schwachen gegenüber stets grossmütig und edel zu zeigen.
Nathan stellt sich nun in einer Form vor, die den anderen zwingt, sich mit ihm geistig auseinanderzusetzen, indem er seine Identität solange zum Rätsel macht, bis der Funke gesprungen ist, und der Ritter nicht mehr vorgeben kann, den Grund des Gespräches nicht zu kennen. Er versucht es auch gar nicht, sondern konzentriert sich darauf, Nathans Dank abzuwehren. Ist er dazu in der Lage, zeugt das von einigem Selbstvertrauen und einer gewissen Macht, von Dingen also, die Curd momentan nicht sein Eigen nennen kann. Er will ihre Wiederherstellung keinem Juden verdanken, zu tief wurzeln erlernte Vorurteile und der Trieb, wenigstens jemandem überlegen zu sein.
Nathan reagiert auf das zur Schau gestellte Pflichtbewusstsein, dass im Wesentlichen Verlegenheit überspielen soll, und die Geringschätzung seinem Volk gegenüber mit Verständnis. Er lässt keinen Konflikt aufbrechen, zeigt kaum eine direkte Reaktion, fährt fort, den Ritter als im Grunde gut zu charakterisieren, und schafft so eine Basis, auf Grund deren fortgesetzte Gespräche möglich sein werden.
Der Tempelherr dankt’s ihm nicht. Er bleibt schroff und knapp und stellt Nathan, den reichen Juden, der ihm helfen möchte, als potentiellen Schmiergeldverteiler dar. Nathan wahrt seine Würde und ändert seine Taktik. Statt direkt mit dem Ritter, spricht er mit dessen Mantel und nimmt ihm so die Möglichkeit, die unter einem Vorwurf verborgenen Komplimente auszuschlagen.
Nathans Träne, Ausdruck aufgewühlter Gefühle und des Schmerzes, der Recha gegenwärtig zuteil wird, entblösst das künstliche Gehabe des Ritters so sehr, dass er, verwirrt und erschreckt über den unerwarteten Gefühlsausbruch, höflicher wird. Nathan lässt ihm keine Zeit, Herr der Verwirrung zu werden, er kommt endlich zum eigentlichen Problem. Er erniedrigt sich in den Augen Curds weiter, indem ersagt, dass er inzwischen schon mit einem Mantel zufrieden wäre, um dem aufgestauten Dank ein Ventil zu bieten. Dadurch wird Curd klar, dass es nicht allein damit getan ist, jemanden zu retten, sondern dass man dadurch den Geretteten gleichsam in Vormundschaft nimmt und das Gleichgewicht nur wieder herstellen kann, wenn man ihm gestattet, die Schuld durch Dank abzutragen. Nathan hat dem Ritter seine eigene Situation vor Augen geführt.
Curd findet keine Worte, schämt sich wohl, aber Nathan will ihn weder mehr als nötig verunsichern noch sein Selbstwertgefühl weiter schwächen. Er will eine künftige Beziehung auf Gleichberechtigung aufbauen. Deshalb lädt er, der Starke, Curds Versagen auf die Schultern seiner eigenen Familie. Dadurch wird der Ritter fähig zur Selbstkritik, gesteht dem Juden gewisse Achtung und seinem Orden Fehler zu.
Nathan aber interessiert sich nur für dieses spezielle Exemplar von Tempelritter und betrachtet es als Mensch und nicht als Mitglied einer Gruppe. Er individualisiert die ganze Diskussion. Er stellt alle guten und mittelguten Menschen auf je eine Stufe. Davon ausgehend, plaziert er Anspielungen auf gegenseitige fehlende Toleranz, die dem Ritter sauer aufstossen. Alte Ressentiments gegen Juden brechen wieder auf, aber es erscheinen auch echte Überlegungen, die die reale politische Situation (Kreuzzüge, Suche nach der besten Religion) hinterfragen. Bei solchen Ansätzen hakt der aufgeklärte Nathan natürlich sofort ein. Noch einmal löst er das Individuum von seiner Herkunft und appelliert allein an den vernunftbegabten Menschen.
Das legt nun endgültig den Grundstein zu einer von Nathan erkämpften Freundschaft. Durch seine Würde, die er jeder Erniedrigung entgegengestellt hat, hat er dem in einem ideellen Vakuum steckenden Jüngling ein positives Vorbild gegeben, das dieser nach einer längeren Phase der Situationsbewältigung ( Unhöflichkeit ) adaptierte.

Curd ist nun so stark, dass er zugeben kann, dass ihm Recha doch einiges bedeutet.




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